Ich lauschte wie ein Mäusel. Dass mir ja nicht ein Wort entging, hielt ich mit beiden Händen Schwesters Kopf fest und schaute ihr auf den Mund. Hatte sie einen Vers beendet, sagte
ich nur kurz: Noch mal! Fünf Verse sang sie mir vor, jeden etwa 8 – 10 mal. Plötzlich sagte ich: Alles! – Da sang meine „Große" alle fünf Verse. Ich nickte, hielt ihr den Mund zu und
sang ohne zu stocken, ohne Hilfe, was ich in etwa ½ bis ¾ Stunde gehört hatte. Und diese einzig schöne Stunde, die mein ganzes bisheriges Leben durchstrahlte, bezeichne ich heute als
die Stunde der Hinwendung zur erzgebirgischen Mundart.
Mit neun Jahren hatte ich das Glück, Schülerin des Herrn Oberlehrer Buschbeck zu werden. Er entdeckte und förderte meine Veranlagung auf dem Gebiet der Volkskunst. Erst übte er mir
„De Zipp" und den „Erzgebirgsmarsch" Hans Soph´s ein und ließ mich beides – von ihm am Klavier begleitet – zu einer Klassenfeier singen. Im November 1921 bat Herr Oberlehrer Buschbeck
meine Eltern, mich zur Adventsfeier des Erzgebirgszweigvereins Zwickau zwei Lieder singen zu lassen, ein Wiegenlied, das mich die Mutter gelehrt hatte, in Hochdeutsch und „De Zipp".
Dazu sprach ich noch ein Gedicht, von dem ich heute nur noch weiß, dass es am Ende hieß:
"Der Voter raacht sein Pfeifel of de Naach un in Stübel riechts nooch lauter Ressigraach."
Vielleicht wars von Siebert?
An diesem Abend traten meine lieben Eltern dem Erzgebirgsverein bei. Wanderungen ins Erzgebirge und Pflege mundartlicher Literatur erschlossen mir den Sinn für die Schönheit und
Eigenart der Heimat und ihrer Menschen immer mehr.
O, das Wandern! Wie viel wusste Vater, der doch kaum las, zu erzählen! Es war auch nicht etwa so, dass wir ein Stück mit der Eisenbahn fuhren, im nächstliegenden Gasthaus einkehrten
und dort kleben blieben. Tagesmärsche bis 40 Kilometer legten wir zurück. Gesungen haben wir, Vater, Mutter und ich, was Kehlen und Lungen herhielten. Wie schmeckten dann im Rasthaus
auf dem Kuhberg bei der „Schiehaad" oder auf dem Auersberg die mitgebrachten „Bemmen" gut. Dazu gabs, oh Kinderglück, eine Flasche Limonade, natürlich rot, die nach Himbeeren
schmeckte.
Mit 10 Jahren ließen mir die Eltern Unterricht im Konzertzitherspiel erteilen. Als 11 Jährige sang ich zu Schwesters Hochzeit in der Kirche. Als mich Herr Studienrat Geyer hörte, der
meinen Gesang begleitete, riet er, mich zur Ausbildung der Stimme, seiner Tochter, einer Gesangspädagogin, anzuvertrauen. Auch das ermöglichten die lieben Eltern. Es fiel mir leicht,
da ich schon seit dem 9. Lebensjahr im Chor der Lutherkirche mitsang und an meinem Gesangslehrer in der Schule, Herrn Blank, einen vorzüglichen Ausbilder hatte.
Mit 17 Jahren endlich nahm ich noch Unterricht im Klavierspiel und als 20-jährige wurde ich Schülerin von Hans Soph – im Lautenspiel.
In vielen Veranstaltungen habe ich als Kind mitgewirkt. Aber erst, als ich mich selbst auf der Laute oder der Gitarre begleiten konnte, gewann das Mundartlied meine ganze Seele. Mein
Lieblingsinstrument war die in meinen Besitz übergegangene herrliche Basslaute Hans Soph´s. Als ich die ersten Akkorde beherrschte, sagte der Altmeister:
„Nu wers net lang dauern un se machen sich ihre Liedle salberscht".
Er, der „vu der Platt" stammte, rollte das R beachtlich. Und wie recht behielt Hans Soph. 1931, also mit 20 Jahren, entstand mein erstes Liedel, „Zufriedenheit", Text und Melodie
kamen auf einmal gepurzelt. Ich hatte nach der Lautenstunde in der guten Stube gesessen, auf dem Tisch, Beine auf dem Stuhl, so konnte ich die Laute am bequemsten halten. In der
Wohnküche war mirs zu laut, Mutters Kränzelfrauen feierten dort. Ich übte meine neuhinzugelernten Griffe, plötzlich summt ich eine Melodie, Worte fanden sich dazu und bald sang
ich:
Ob Sommer, öb Winner,
öb Hitz oder Frost,
iech fercht miech vor kanner Nacht,
bi racht schie zefrieden un find aah menn Trost,
wenn am Himmel e Sternele lacht.
Ach Sternel du goldigs,
wie lachst de mir zu
un wenn ich diech asah, glei find ich mei Ruh.
Geder Boß hot sei Madel un dos hot er gern,
dos is aah sei Fraad, sei Lust. Der Mad ihre Aagn, dos sei seine Stern,
drüm singt er aus tiefster Brust:
Ihr zwaa goldign Sterrle, wie lacht ihr mir zu un wenn ich eich asah, glei find ich mei Ruh.
Un ho iech aah Sorgn, e die hobn alle Leit,
aah wenn se siech noch esu verstelln, iech klogs net ne Menschen, weil die´s bluß noch freit,
tu alles mein Sterrle derzähln: Ach Sterrle, ihr goldign, wie lacht ihr mir zu
un wenn ich eich asah, glei find ich mei Ruh.
Vater kam in die Stube: „Na Kleene., Einsiedler, gibt’s was Neues? Ich lachte: „Ja, das sing ich jetzt en Weibsen vür!" – Das gab eine Freude! Aber als ich am Ende sagte: „Vater, das
ist von mir! Mein erstes Lied!" – da wurde der Vater ganz ernst und sagte leise und streng: „Musst nicht schwindeln, ich freu mich schon, wenn du was Schönes lernst." Als ich ihm aber
bedeutete, dass ich dieses Lied eben gemacht habe, sah er mich groß an, mit einem Blick, den ich nie vergessen werde - - und verließ wortlos die Küche. Diese Stunde bestätigte meinen
Eltern die Richtigkeit ihrer Lebensauffassung vom „Wandern und Schauen".
War ich zwei Jahre fast ausschließlich als „Soph-Sängerin" bekannt gewesen, so änderte sich das dann sehr. Anton Günther vor allem, aber auch Gottfried Lattermann, Stefan Dietrich und
C. F. Krauß nahm ich in mein Programm auf und dann auch eigene Lieder.
Am 1. Februar 1936 trug ich anlässlich der Jahreshauptversammlung des Erzgebirgsvereins Zwickau vier eigene Lieder vor, die ich durch Gedichte zu einem kleinen Zyklus „Durchs ganze
Jahr" verbunden hatte. Die anwesenden Rezensenten des „Zwickauer Tageblattes" und der „Zwickauer Zeitung" E. O. Mathes und Kurt Reimann baten mich um die Texte der Lieder und
Gedichte. So konnte ich am 3. Februar mit Freude erstmals meinen Namen unter einem Gedicht in der Zeitung lesen. Es war das „Ruschellied".
Kurt Reimann ist als mein eifrigster Förderer anzusehen. Er verstand es so vorzüglich, mich zu neuem Schaffen anzuregen, dass ich allein im Jahr 1936 72 Gedichte schrieb und
veröffentlichte. Natürlich waren nicht alle gut. Sauber im Aufbau, ja, aber noch viel zu sehr vom Hochdeutschen her beeinflusst, mit Worten durchsetzt, die ein einfacher
mundartsprechender Mensch nie gebrauchen würde. Aber, es ist ja kein Meister vom Himmel gefallen und Hauptsache ist, dass ich meine Fehler selbst entdeckte und mir der strengste
Kritiker war.
Viel, viel Freude durfte ich bringen in ungezählten Veranstaltungen. Ab 1938 bot sich mir kaum noch Möglichkeit zu Veröffentlichungen in Zeitungen. Meinen Arbeiten fehlte die nun
gewünschte „Aussage", die Tendenz. Aber schönes, fruchtbares Schaffen mit der von Kurt Reimann geleiteten Singgruppe des Zwickauer Textilwerkes, gegründet 1940, befriedigte mich
völlig. Es ist selten, dass eine Volkskunstgruppe lange Bestand hat. Verheiratung, ungünstig gelegene Arbeitszeit, Erkrankung und was sonst noch alles, lassen die Gruppen vielfach
wieder zerfallen.
1946 gründete ich die Volkskunstgruppe „Zwickauer Kohlmeisen". Die ersten Mitglieder waren die Geschwister Schreiber (Konzertzither und Gesang). Die 3 Mädels waren alle begabt, auch
darstellerisch. Leider hielt sich die Gruppe nur knapp ein Jahr. Bereits im Herbst 1946 sah ich mich nach einer zweiten Besetzung um und hatte Glück. Die hervorragend begabte,
fleißige Zitherspielerin und Sängerin Marianne Floß (17) und ihre Freundin Käte Beyreuther (17) sagten mir begeistert zu. In Mariannes Haus fand sich noch Alice Gerischer mit ihrer
hellen Sopranstimme einverstanden, der erzgebirgsichen Volkskunst zu dienen. Und als sich noch das „Zwickauer Zither-Trio" (Adolf Lindner – der spätere Ehemann Alice Gerischers –
Herbert Zimmermann und Herbert Wegmarshausel mit uns verband, hatten wir ein Volkskunstensemble aufgebaut, das sich sehen und hören lassen durfte.
Hunderte von Einsätze in Jahresversammlungen des Konsums und zu Veranstaltungen verschiedener Organisationen führten wir bis 1950 durch. Das größte Erlebnis war eine im Auftrag der
Volksbühne durchgeführte Thüringen-Tournee. Leider war auch diesem ausgezeichneten Ensemble nur ein dreijähriges Bestehen beschieden. Hauptberufliche Bindung einerseits und
Verheiratung einiger Mitglieder sprengte diese Volkskunstgruppe.
Ich erinnerte mich, dass Willi Kaltofen, Sehma i. E., eine sehr gute Singgruppe herangebildet hatte und als wirklicher Meister der Konzertzither anzusprechen war. Mit dieser ganz
ausgezeichneten Gruppe war ich seit 1942 verschiedentlich in Berührung gekommen. Seit 1950 stehe ich nun zusammen mit „Willi Kaltofen, Meister der Konzertzither, mit seinem
Heimatterzett und seiner Instrumentalgruppe" als Sprecherin und Künderin des Erzgebirges auf der Bühne. Dank der laufenden Beschäftigung durch die Konzertdirektion Hans Hoppe,
Dresden, später durch die Konzertdirektion Hermann Lorz Dresden und dann durch die Konzert- und Gastspieldirektion hat sich dieses Ensemble zu einer der führenden Volkskunstgruppen
herausbilden können und hat in etwa 1800 Veranstaltungen das gesamte Gebiet der DDR bereist, dabei die größten Säle in Dresden (Hygienemuseum), Leipzig (Capitol), Erfurt
(Stadtgarten), Halle (Steintor), Jena (Volkshaus), Suhl (Kulturhaus) etc.
Eine dankbare Aufgabe sahen wir in der Bespielung der Kulturorte vom Zittauer Gebirge übers Erzgebirge, den Thüringer Wald, den Besuchern unsere erzgebirgische Heimat näher gebracht
und zugleich viele, viele Menschen erfreut. Einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterlassen unsere vorweihnachtlichen Veranstaltungen „Weihnachten im Erzgebirge". Ganz zünftig
geht’s da zu, beim Kerzenschein von Peremedd, Spinn, Schwibbugn, Lichterengel, Bergma, Nussknacker und Raacherma. Ich wünsche und hoffe, dass ich noch recht lange der Volkskunst
dienen kann.
Zwickau, 23.11.65 gez. Marianne Hütel"